Am Anfang war der Traum
"Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum!"
Juni 1983: Der Lago di Candia liegt wie ein silberner Spiegel in der Ebene des Piemonts, einer Region Italiens, die dir sicherlich durch die Piemont-Kirsche in Mon Chérie bekannt ist. Mücken schwirren in der Hitze. Am Ufer leicht verdorrte Wiesen und Felder und der kleine Ort Candia mit knapp eintausend Einwohnern. Das Thermometer steht auf 32 Grad im Schatten, den es auf dem See nicht gibt. Auf dem Wasser des Sees unzählige Ruderboote, am Ufer ein Banner mit der Aufschrift:
„Match des Seniors 1983 – Candia“.
Die Hitze flimmert über dem See. Das Wasser ruhig und schwer wie Quecksilber. Absolute Stille bis auf das Eintauchen und Ausheben der Ruderblätter. Kein Lüftchen weht. Gleiche Bedingungen auf allen sechs Bahnen. Sechs Boote aus verschiedenen Europäischen Ländern am Start. Die besten ihres Landes in dieser Bootsklasse. 24 menschliche Rudermaschinen, die von diesem Tag geträumt und seit Jahren darauf hin trainiert haben. Die den Rudersport zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht hatten, obwohl wir alle Amateure waren. Alle Boote liegen mit dem Heck an der Starthelferbrücke. Aufgrund der minimal unterschiedlichen Länge der Boote müssen die Bootsspitzen auf die gleiche Höhe ausgerichtet werden. Das einzige Geräusch das man hört, ist die Stimme des Seitenrichters: „Italy back, Germany forward, Switzerland OK“. Einem meiner Mannschaftskollegen – an dieser Stelle wird bewusst kein Name genannt - entweicht ein Darmwind in der Stille. Das ganze Boot vibriert. Jetzt bloß nicht die Konzentration verlieren. Darüber können und werden wir uns noch später amüsieren.
Plötzlich, die rote Fahne des Starters ist oben, in der angespannten Stille ertönt das immer auf Französisch gerufene Startkommando:
„Etes-vous pret? Partez!“ (Seid ihr bereit? Los!)
Die geballte Kraft der 24 Muskelpakete bricht los. Ein dreiviertel langer Schlag, dann zwei ganz kurze Schläge ohne Rollen auf dem Rollsitz, nur aus den Armen und dem Oberkörper, danach kontinuierlich länger werden mit dem Durchzug der Ruderblätter. Tausende Male eingeübt das Startprozedere. Der Schlagmann, also derjenige, der ganz hinten im Boot sitzt und von allen Mannschaftsmitgliedern gesehen wird, gibt die Frequenz vor. Das war ich in unserem Vierer ohne. Direkt nach dem Start eine Schlagfrequenz von 38 Schlägen pro Minute. Gleichzeitig bloß nicht die Richtung verpeilen. Wir sitzen ja rückwärts zur Fahrtrichtung im Boot. Die Regattastrecke in Candia hatte ein sogenanntes Albano-System, das heißt jede einzelne Bahn ist über die ganzen 2.000 m mit kleinen Bojen markiert. Das hat den Vorteil, dass man im Falle des Versteuerns den benachbarten Booten nicht so leicht in die Quere kommt, aber dafür besteht die Gefahr, schnell mit den Ruderblättern die Bojen zu berühren und aus dem Takt zu kommen. Das wäre der Supergau.
Start ist geglückt, vier von den sechs Booten, darunter wir, liegen gleich auf in Front. Nach 250 Metern langsam in den Streckenschlag übergehen, den wir über 2.000 Meter durchhalten müssen. Etwa 34 Schläge pro Minute. Die Führung wechselt kontinuierlich, wir halten uns im vorderen Feld. Aus den Augenwinkeln die gegnerischen Mannschaften beobachten, obwohl es wichtiger ist, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren. Etwas hinter der 1.000 Meter-Marke, also kurz nach der Hälfte der Strecke, haben wir uns einen Zwischenspurt von 20 Schlägen vorgenommen.
Das Kommando kommt von Bugmann Wolle, der ganz vorne im Boot sitzt und durch seine Position die Gegner am besten im Blick hat: „AB!“
Schlagfrequenz wieder hoch auf 38 bis 40! Tatsächlich, wir setzen uns an die Spitze des Feldes. Die Beine glühen. Die Lungen pumpen die maximale Sauerstoffmenge ins Blut. Jetzt nach dem Spurt nicht nachlassen! Die Gegner reagieren auf unseren Spurt und verkürzen den Abstand wieder. Noch 500 Meter. Etwa 60 Schläge, aber darüber denkt in diesem Moment keiner mehr nach. Es wird langsam schwarz vor Augen.
Jetzt wieder unerbittlich die Stimme von Wolle: „AB!“
Der Endspurt. Augen zu, alle Kraft rein, die noch rauszuholen ist. Schlagfrequenz hoch auf über 40. Ich als Schlagmann sehe verschwommen die Boote der Gegner rechts und links seitlich neben uns. Es sieht so aus, als ob wir noch in Führung liegen. Die letzten zehn Schläge praktisch im Koma. Ich bin in einem Tunnel. Höre nichts mehr, sehe nichts mehr, nur noch Schmerzen. Dann die Hupe als erlösendes Zeichen. Wir sind im Ziel.
Der Sieger des Rennes: ...